Visitation (1/3)

Kategorie: contemporary horror

Vorwort

Ein Vorwort klingt immer ein bisschen nach einer Rechtfertigung, weswegen ich es üblicherweise unterlasse. Ausnahmen bestätigen freilich die Regel, und diese Geschichte hat ebenfalls eines verdient – und nicht aus Gründen, mich zu rechtfertigen.

Der Anfang dieser Geschichte ist nun etwa sechzehn Jahre alt und entstand als Teil eines Projektes: Zu viert wollten wir je den Anfang einer Geschichte schreiben und dann reihum weiterreichen, um letztlich vier Geschichten zu erhalten, an denen wir alle mitgewirkt hatten. Mit Begeisterung hatte jede und jeder von uns mit seinem Teil begonnen, ihn in der ausgemachten Reihenfolge weitergegeben und – nichts. Es kam noch, sofern ich mich richtig erinnere, zum zweiten Teil ausgerechnet meiner Geschichte, aber die anderen drei (inklusive mir) hatten mit der entsprechenden Vorgabe nichts anfangen können. Ein fehlgeschlagenes Projekt also.

Mein Anfang dümpelte danach jahrelang in der virtuellen Schublade rum, bis ich ihn irgendwann wieder hervorkramte und mir dachte: Daraus könnte ich noch etwas machen. Wann genau das gewesen ist, weiß ich nicht mehr, aber bestimmt erst sechs, sieben Jahre danach. Den Teil, der nicht von mir stammte, habe ich dabei freilich verworfen (nicht, weil er schlecht gewesen wäre, sondern weil er nicht von mir ist).

Was ihr nun vor euch habt, ist eben jener Anfang bis zu der Stelle, an der ich ihn seinerzeit weitergereicht hatte. Er (so wie die gesamte Geschichte) wurde allerdings grundlegend überarbeitet – im Gegensatz zur Kurzgeschichte „Die Mauer“ (der eine oder die andere erinnert sich vielleicht noch daran).

Eines ist vielleicht noch erwähnenswert: das Genre. Wie bereits zugegeben, hatte ich mich früher von Autoren wie Stephen King und Clive Barker inspirieren lassen, und die Intention hinter dem genannten Projekt war, vier blutige Geschichten zu schreiben („Splatter“ nennt man das, wenn der Fokus dabei nicht unbedingt auf der Handlung liegt, sondern eher auf der expliziten Darstellung von Gewalt). Nur damit ihr wisst, was euch erwartet, sofern ihr weiterlest. 😎

Ach ja – auf die ausständigen zwei Teile lasse ich euch freilich nicht lange warten.

„Nein. Nein. Nein.“

Unablässig wiederholte Cedric dieses Wort, während er mit seinem alten Ford Escort – der Rost sei ihm gnädig – durch die Stadt fuhr. Er flüsterte es, so als ob es Unheil bedeutete, es laut auszusprechen. Oder es nicht auszusprechen, wie um sich den Teufel vom Leib zu halten.

Das Wageninnere stank. Er stank. Es war ihm einerlei. Andere, dringendere Probleme verdrängten die verblassende Erinnerung an die letzte Dusche. Obwohl diese Probleme zugegebenermaßen ebenso mit seinem körperlichen Wohlbefinden zu tun hatten.

Was will sie von mir? Immer und immer wieder stellte er sich diese Frage, jedoch nicht einmal geflüstert. Sie spukte in seinem Kopf seit der ersten gemeinsamen Nacht. Und er kannte noch nicht einmal ihren Namen.

Er nahm die Zigarettenkippe aus dem Mund und warf sie achtlos Richtung Fenster. Sie verfehlte den nicht einmal handbreit geöffneten Spalt, prallte an der Scheibe ab und landete auf seinem Schoß, wo ihr Glimmen letztlich erlosch, ohne Schaden anzurichten. Nach einigem Hin- und Herrücken fiel sie auf den Wagenboden und gesellte sich zu längst erkalteten Stummeln, wurde eine von vielen. Manche davon waren nicht einmal zur Hälfte abgebrannt.

Cedric fuhr mit über achtzig Kilometer die Stunde über Straßen, auf denen nur vierzig erlaubt waren. Die Straßenbeleuchtung, die den Inhalt des Fords in ein Lichtspiel trüber Farben verwandelte, erlosch mit einem Mal. Scheiße, dachte er. Er verringerte sein Tempo unwesentlich, denn er war ohnehin spät dran. Er konnte nur verlieren.

Hätte er darüber nachgedacht, hätte er festgestellt, wie sehr er sie begehrte. Sie war innerhalb von nur wenigen Wochen zum Inhalt seines kärglichen Lebens geworden. Und – oh Mann, er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so viel gebumst wie in diesen letzten Wochen.

Er kam ihr immer näher. Keine zehn Minuten mehr, und er würde bei ihr sein. Doch je näher er ihr kam, desto mehr rotierten seine Gefühle. Was konnte eine Frau, ein Wesen wie sie von ihm wollen? Das war kein Zufall, nein. Er war ein Auserwählter, musste es sein. Sie gab sich nicht mit jedem zufrieden. Das hatte er einmal gesehen, in jener Nacht ihres dritten Treffens. Zwei war die Zahl der Dualität, drei die der Einigkeit. Alles musste eins werden, hatte sie an diesem Abend gesagt. Sie hatte an der Kreuzung auf ihn gewartet und nicht in ihrer Wohnung, wie üblich. Sie war ein Mysterium, wenn Licht ihre Konturen nachzeichnete, eine Silhouette voller Geheimnisse. Die perfekte Täuschung, bei der es besser war, es sich zweimal zu überlegen, ob man dahinter sehen wollte.

In jener Nacht war er Zeuge geworden, wie sie einem einsamen Spaziergänger den Hals mit ihren Zähnen zerriss.

Zuerst fragte er nach dem Warum. Vielleicht ein Wort zuviel, eine falsche Andeutung; eine täuschend sinnliche, Fleisch fressende Pflanze, die nicht gestreichelt werden wollte. Möglicherweise hatte der Bursche es überlebt, sicher war sich Cedric jedoch nicht. Zur Flucht hatten seine Kräfte jedenfalls gereicht.

Und ihre Worte. Liebling. Nie kam sein Name über ihre Lippen, nur Liebling. In dem Schockzustand, in den er verfallen war, empfing er den ersten Blutkuss seines Lebens. Dieser Kuss war wie ein Rausch, wie Fleisch gewordenes Endorphin, das er halten konnte und nie mehr loslassen wollte. Alle Fragen, alle Zweifel verflogen, denn die Sucht war stärker. Die Sucht nach dem nächsten Kuss. Die Sucht nach Blut.

In den nachfolgenden Tagen hatten ihn seine Kollegen mehrmals auf wenig schmeichelhafte Weise nahegelegt, dass er ein stärkeres Deodorant verwenden sollte. Alles Kretins! Es war ihr Geruch, der an ihm haftete, den er nie wieder loswerden wollte. Er meldete sich krank und verließ seine kleine Zweizimmerwohnung kaum noch, zumindest nicht tagsüber, wo er die Tür verriegelte und die Vorhänge zuzog. Seine Wohnung und er bildeten eine Symbiose, ergänzten einander in der düsteren Stimmung, in der sie in Belanglosigkeit ausharrten. Die Erinnerungen an diese Zeiträume sind bestenfalls vage. Ein pickeliger Pizzajunge. Der Postbote. Der allgegenwärtige Gestank in seiner Wohnung, gerade so weit am Rande seines Wahrnehmungsvermögens, um ihn nicht als den eigenen identifizieren zu können. Das Warten. Vor allem das Warten. Auf den Anbruch Nacht. Wo er seine Wohnung verließ. Für eine andere.

Der Stromausfall währte minutenlang. Was war das für eine Stadt, in der die Straßenbeleuchtung einfach ausfallen konnte? Der Ford brauste auf der Vorrangstraße dahin, bis Cedric unvermittelt und hart bremste und ohne Blinker rechts abbog. Die Reifen quietschten ihr protestierendes Lied, als er seinen Wagen in die Seitengasse warf, doch ein kurzes Holpern schleuderte ihn beinahe gegen die parkenden Autos. Er bremste das Quietschen zu Tode, brachte Reifen und Ford zum Stillstand, ehe er das Auto einen Satz zurück machen ließ. Bei laufendem Motor stieg er aus, wobei er einige Zigarettenstummel mit der Schuhspitze ins Freie katapultierte.

Auf der Fahrbahn klebte ein blutiges Etwas. Er näherte sich diesem Ding und glaubte, darin einen Hund zu erkennen. Wohl irgendeine Promenadenmischung mit der Größe einer Katze. Die zähe Flüssigkeit, die sich auf dem Asphalt verteilt hatte, musste das Gehirn sein, der Braunstich darin war Blut, keine Frage. Ein Teil des Blutes wählte einen anderen Weg und floss direkt auf seine Schuhe zu, wie ein rächendes Etwas, das nicht verzieh. In diesem kleinen Fluss schwamm etwas glänzend Rundes, das ihn anglotzte. Er zertrat es.

Mit einem Mal meldete sich Cedrics Magen. Er bekam Hunger. Auf dem Absatz wollte er kehrtmachen und zu seinem Ford zurückgehen, als sich ihm ein Mann in den Weg stellte, der offenbar die letzten Sekunden mit entsetztem Schweigen verbracht hatte.

„Tina! Sie … Sie haben Tina … Was … was haben Sie getan? Was …“

Weiter kam er nicht. Dieser Spießer langweilte Cedric. Er holte aus und führte seine rechte Gerade direkt an den Unterkiefer des Mannes, der etwa doppelt so alt war wie er. Es knackte hörbar, und anstatt weiterer unsinniger Worte brachte der Spießer nur noch ein schmerzerdrücktes Gurgeln hervor. Dann ging er zu Boden.

Hunger, dachte Cedric. Aber nicht er. Es gab wahrlich Frischeres.

Er rieb sich die Knöchel seiner rechten Hand, während er zum Auto schritt. Er dachte an die Verzögerung, an die Zeit, die er sie diese Nacht weniger in Händen halten würde. Trotzdem hatte es sich gelohnt, stehen zu bleiben. Er grinste.

Die letzten Häuserblocks brachte er ohne weitere Zwischenfälle hinter sich. Gerade als er sich einparkte, wobei er den hinteren Wagen um gut zwanzig Zentimeter versetzte, erwachte die Straßenbeleuchtung wieder zum Leben. Flüchtig wie eine Fata Morgana sah er sein Spiegelbild in der Windschutzscheibe, eine von einem ungeahnten Rausch getriebene Fratze. Übrig davon blieb nichts außer dem Lichtspiel trüber Farben.

Er stieg aus und kramte im Hosensack nach dem Schlüssel, den sie ihm vor wenigen Tagen überlassen hatte. Der Schlüssel zu einem Haus, das von außen wie ein gewöhnliches Gemeindemietshaus aussah, gebaut vor den beiden Weltkriegen, als selbst im Sozialbau noch Raumhöhen von über drei Metern üblich waren. In Wirklichkeit aber gehörte es ihr, nur ihr. Fatalerweise war dieses Wissen noch nicht zu den anderen Hausparteien vorgedrungen. Er ertastete das kleine, metallene Ding und war nervös, wie immer. Nein, nein, schrie ihm eine innere Stimme zu, doch er ignorierte sie, so gut es ging. Auch wenn es ihr zeitweise noch gelang, Worte zu artikulieren und an die Luft zu setzen. Der Schweiß der Erwartung rann ihm von der Stirn, als er den Schlüssel ins Schloss einführte und herumdrehte.

Visitation – warum nur geisterte ihm plötzlich dieses Wort, diese Phrase durch den Kopf: Visitation eines sezierten Gehirns durch einen verrückten Seelenklempner. Er reinigte seinen Geist, lachte allen Irrsinn tot, mit Unbehagen zwar, doch nach einigen Sekunden hatte er sich wieder im Griff. Er betrat das Gebäude.

Düster lag der relativ breite Gang vor ihm. Keine Postkästen, keine schwarzen Bretter, nichts war zu erkennen, was normalerweise den Eingangsbereich eines Mietshauses auszeichnete. Nicht einmal der rote Punkt in der Finsternis, der Licht verhieß. Nur matt nahm er die zum Teil gebrochenen Bodenfliesen wahr; Unregelmäßigkeiten waren so ziemlich das einzige, was das spärlich einfallende Mondlicht preisgab. Doch verlockend kühl war es hier herinnen im Gegensatz zu der gedämpften Sommernachtshitze der Stadt, und er ging weiter, langsam vorantastend.

Nach einigen Metern bog der Gang links zum Stiegenhaus ab, und als Cedric um die Ecke bog, blieb er abrupt und mit aufgerissenen Augen stehen. Er hatte schon viel gesehen, aber wie es den Anschein hatte, war viel noch lange nicht alles. Mit den Handballen rieb er sich die Augen und blinzelte. Die so enttarnten Halluzinationen von frei schwebenden Körperteilen, Blut an der Decke und Augen in den Wänden verschwanden und wurden von anderen, freizügigeren ersetzt. Oh, dieser Hunger! Nur sie konnte ihn stillen. Sie konnte alles stillen. Die Vision eines Babys an ihrer Brust flammte vor seinem Auge auf, nur dass das Baby von der Brust ausgesaugt wurde.

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9 Gedanken zu „Visitation (1/3)

  1. „der Rost sei….“ hat mich ein bisschen irritiert, das war nicht mein Humor, aber sonst hat mich das sehr angesprochen.
    Mich fasziniert vor allem auch die Idee mit den herumgereichten Geschichten. Würde ich ja zu gerne mal ausprobieren.

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  2. @Muriel:
    Ich kann dir nicht mal sagen, ob ich das heute immer noch so schreiben würde, aber vielleicht eher nicht mehr bei einer solchen Geschichte. Es hat mir jedoch wohl gut genug gefallen, dass ich es nicht rausgestrichen habe.

    Tja, gemeinsam an einem Text zu schreiben ist eine größere Herausforderung, als ich mir gedacht hatte; damals zumindest. Unsere Vorgehensweise ist auch ziemlich naiv gewesen: einfach losschreiben. Da stößt man gleich mal auf die erste Hürde, sich nämlich dem Stil des anderen anzupassen, und das ist nur die kleinste davon.

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  3. Endlich mal wieder eine „richtige“ Geschichte *freu*
    Auch wenn Spatter nicht so meins ist, bisher gefällt’s mir. Sehr dichte Stimmung wieder, sehr intensive Bilder.

    Und falls du das Experiment irgendwann wiederholen möchtest – ich würd’s jedenfalls gern lesen 😉

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  4. @Guinan:
    Na dann hoffe ich mal, dass ich die Erwartungen halbwegs erfüllen kann, das wird nämlich noch ziemlich seltsam. 🙄

    Nun, für ein solches Experiment bräuchte es einen (oder mehrere) Gleichgesinnte – aber so wie ich das verstanden habe, hat sich Muriel bereits dafür angeboten. 😉

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    • Du hast das vollkommen richtig verstanden.
      Dazu, wie sehr ich beim Fortschreiben der ursprünglichen Vision (soweit überhaupt erkennbar) treu bleibe, will ich mich aber noch nicht festlegen.

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  5. @Muriel:
    Schön, wenn du es so siehst. Wenn man sich der (möglichen) Hürden zumindest ansatzweise bewusst ist, schreckt man auch nicht so leicht davor zurück, wenn sie dann plötzlich vor einem auftauchen. 🙂

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  6. Nun, nun, es scheint, als wäre tatsächlich das Interesse da, gemeinsam eine (oder mehrere) Geschichte(n) zu schreiben. Jetzt fehlt es „nur noch“ an der Initiative. Sofern wir uns vorab über ein paar Rahmenparameter einig werden wollen (z. B. worauf wir uns festlegen wollen und worauf nicht), sollte ich besser einen eigenen Blogbeitrag erstellen, denn hier gehört das nicht mehr hin.

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